Eine Erzählung lesen?

Ehrlich gesagt, das ist eigentlich nicht mein Ding. Natürlich lese ich viel – aber meist sehr gezielt, mit dem Anspruch, etwas daraus mitzunehmen. Ich frage mich oft: Was bringt mir das? Welche neuen Informationen gewinne ich daraus? Deshalb greife ich vor allem zu Hintergrundberichten, Biografien, Recherchen, politisch-gesellschaftlich relevanten Büchern, Artikeln – und natürlich zu Nachrichten.

Aber eine Erzählung?
Der Autor, den ich bei einer seiner Lesungen näher kennenlernen durfte, las so mitreißend und einfühlsam aus seinem Buch, dass ich nicht widerstehen konnte. Ich kaufte es – und las es sofort. Die sanften Emotionen, die lebendigen Gedanken, die feinfühlige Atmosphäre, die kenntnisreichen Beschreibungen und nicht zuletzt das historische wie moderne französische Ambiente haben mich nach und nach in ihren Bann gezogen.

Dass mich je wieder eine Liebesgeschichte faszinieren würde? Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Doch die Begegnung von Paul und Séverine hat mich tief berührt. Besonders bemerkenswert fand ich die Auflösung ihres ambivalenten Verhältnisses am Ende der Geschichte – stimmig und überzeugend.

Und ich muss gestehen: Auch mein Bedürfnis nach Information wurde gestillt. Die kenntnisreiche Beschreibung von Saint-Cloud und seiner vielen berühmten Persönlichkeiten hat mich inspiriert und meinen Blick erweitert – ein schöner Nebeneffekt.

Der Haupteffekt aber war: eine wertvolle Auszeit mit einer wunderbaren Erzählung.
Wer bisher weder an Paris noch an französischer Geschichte oder Liebesgeschichten interessiert war, dem sei dieses Buch dennoch wärmstens empfohlen.

Gregor Baier – Isartalphilharmoniker Juni 2025